Labile Seitenlage

Stadtgalerie Markdorf 2013 | Text: Andrea Dreher M.A.

 

„Was glauben Sie denn, ist ein Künstler? Ein Schwachsinniger, der nur Augen hat, wenn er Maler ist, nur Ohren, wenn er Musiker ist, nur eine Lyra für alle Lagen, wenn er Dichter ist, oder gar nur Muskeln, wenn er Boxer ist? Ganz im Gegenteil! Er ist gleichzeitig ein politisches Wesen, das ständig im Bewußtsein der zerstörerischen, brennenden oder beglückenden Weltereignisse lebt und sich ganz und gar nach ihrem Bilde formt. Wie könnte man kein Interesse an den anderen Menschen nehmen und sich in elfenbeinerner Gleichgültigkeit von einem Leben absondern, das einem so überreich entgegengebracht wird? Nein, die Malerei ist nicht erfunden, um Wohnungen auszuschmücken! Sie ist eine Waffe zum Angriff und zur Verteidigung gegen den Feind.“ (Pablo Picasso „Was ist ein Künstler?“, in: Kunsttheorie im 20. Jahrhundert, Hg. Harrison, Wood, Hatje Cantz-Verlag 1998, Bd. 2, S. 777)

 

Dem Feind der Kunst gibt Picasso in seinem Statement zwar keinen Namen, aber wir kennen ihn alle: Er ist die verkörperte Langeweile, gepaart mit dem vermeintlichen Sicherheits-Geplänkel. Der Feind der Kunst suggeriert uns die Rettung allen Übels, er versichert uns, die allgemeine Lage im Griff zu haben und versetzt uns trotz aller gesellschaftlich-politischen Unbill in die stabile Seitenlage. Die Medien geben sich schnell zufrieden, und wir Konsumenten haben uns gefälligst ruhig zu verhalten. Schließlich ist die Welt nicht untergegangen, und die Deutsche Bank steht nur ein bisschen am Pranger. Endlich werden die Japaner wieder neue Atomkraftwerke bauen, und die Häuslesbauer dämmen ihre Wände gegen das frostige Klima im Lande und auf der globalen Welt.

 

Wen wundert es also, wenn ein Künstler wie Wolfgang Neumann seine Finger auf die Wunden unserer Zeit legt. Er ist Maler und Dichter, Songwriter und Lehrer, er ist ein Aktionist, dessen Tag 48 Stunden dauern sollte, um aus der allgemeinen Bilderflut neue und andere Bilder generieren zu können, die mit dem Bewusstsein antreten, mehr als nur Malerei zu sein. Neumanns Kunst setzt Akzente und sie stellt unsere gängigen Wahrnehmungsmuster auf die Probe. Und dabei setzt er uns wissentlich und willentlich in die labile Seitenlage.


Seine Geschichten entstehen weder linear noch konzeptuell, sondern Neumann filtert den „Wahnsinn im Alltag“ und hält diesen zunächst auf kleinen Skizzen fest. Wenn auf der Grundlage einer Skizze in der Folge ein Bild entsteht, so wirkt der Realismus darin oft sehr surreal, weil der Künstler Parallelwelten inszeniert, die meist nur in unseren Köpfen existieren. Hinzu kommt, dass Wolfgang Neumann unsere metaphorische Sprache beim Wort nimmt und diese in Bilder übersetzt.

So kennen wir alle den Zustand eines Durchhängers. Wir wissen, wie es sich anfühlt, wenn die Luft raus ist aus unserem Alltag. Aber haben wir uns jemals überlegt, wie ein Durchhänger aussehen könnte? Welche Farben würden wir wählen, welches Format, welches Motiv?

Wolfgang Neumanns als Durchhänger betiteltes Bild zeigt einen völlig erschöpften Clown, der unter der Last seiner Utensilien und seiner Belastung, die Leute professionell bespaßen zu müssen, zusammenzubrechen droht.

 

Zirkusmotive gehören in jüngerer Zeit zum künstlerischen Inventar Neumanns. In diesem Mikrokosmos, wo Mensch und Tier, Zauber und Sensation, Freiheit und Zwang, Perfektion und Klamauk aufeinandertreffen, entstehen neue Sichtweisen und neue Denkräume.

Die Feuerschlucker, Messerwerfer, Akrobaten und Raubtierdompteure riskieren täglich ihr Leben in der Manege, sie stellen ihre Existenz an den grell-farbigen Pranger der sensationslüsternen Zuschauer. Bei der Betrachtung dieser Zirkusbilder setzt uns der Künstler ungefragt die voyeuristische Maske vors Gesicht, hinter deren Tarnung wir unerkannt nach den Grenzerfahrungen lechzen dürfen. Neumann fokussiert in seinen Motiven das besonders Groteske, wobei er seine Protagonisten allesamt mit Masken vor unseren lüsternen Blicken schützt. Wir sind also Zeugen eines farbenfrohen Schauspiels, aber wir werden niemals die Wahrheit erfahren, die hinter diesen Kulissen verborgen bleibt. Bussi Bussi und weiter geht’s, Durchhänger hin oder her, denn: the show must go on!

 

Auch im Märchenwald von Hansel und Gretyl steht ein Zirkuszelt. Bei näherer Betrachtung ähnelt die Zeltkuppel eher einer Moschee oder gar einem Kraftwerk, und die Initiale „C“ für CIRCUS prangt stolz auf der Kuppel wie die Mondsichel auf dem Dach der Moschee oder wie das Firmen-Kürzel der Betreibergesellschaft. Hat es das Grimmsche Geschwisterpaar etwa in einen fremden Wald verschlagen? Der über ihren Köpfen balancierenden Seiltänzerin scheinen die beiden Kinder zumindest keine große Aufmerksamkeit beizumessen. An einer Weggabelung in sicherer Ferne scheint Hänsel das kleine Lebkuchenhaus entdeckt zu haben, vor welchem geifernd eine als Hexe maskierte Blondine steht, deren Brüste nur mit einem großen Lebkuchenherz bedeckt sind. Rund um das süße Häuschen wachsen Fliegenpilze, ganz ungiftig dürfte die Lage also nicht sein.

Gebückten Hauptes sucht Gretyl das Weite, als wolle sie von all den Reizen nichts wissen.

Nichts zu wissen scheint auch der den rechten Bildvordergrund dominierende Fremdenführer im blauen Pullover, roter Hose und weißer Guy Fawkes -Gesichtsmaske. Sein Smartphone scheint ihm den Weg zu weisen, raus aus dem Wahnsinn dieses Waldes. Er will sich offenbar davon schleichen, um seinem Auftrag als Fremdenführer nicht mehr nachzukommen zu müssen; so hängt der wegweisende Schirm längst zugeklappt an seinem rechten Handgelenk.

 

Wirklich wohl fühlen sich die wenigsten Titelhelden in Neumanns Kunst. Woran mag es liegen, dass jede Bildsituation unserem Verstand zu entgleiten droht? Kaum haben wir einen Ort lokalisiert und die ihm zugeordneten Motive gesichtet, schiebt sich ein Widerstand ins Bild.

Beim Schreber assoziieren wir intuitiv den Garten und sehen einen Wohnwagen: immerhin! Doch im Garten wachsen wieder jene giftigen Fliegenpilze, die wir schon aus dem verfluchten Märchenwald kennen, außerdem droht ein Bagger die Naturidylle zu verunstalten. Im Übrigen trägt der Protagonist eine Delphin-Maske und darüber hinaus noch eine rote Clownsnase, beide werden mit Gummilitzen über seinen Kopf gespannt. Der Masken nicht genug, steckt auch noch eine Kinder-Karnevals-Pfeife im Maskenmaul, die sich beim Ausatmen zu einer trötenden Schlange aufrollen soll.

Kurzum, die Groteske hat dieses Bild und mit ihm uns Betrachter fest im Griff. Auch der von links ins Bild ragende blaue Boxhandschuh mit der Aufschrift TOP TEN und der dazugehörige Blouson-Ärmel tragen kaum zur Entspannung der Situation bei.

Ganz im Gegenteil: Spannung ist ein treibendes Moment in der Malerei und Zeichnung von Wolfgang Neumann. Er gewährt uns und sich keine Auszeit, seine Welt ist in ständiger Alarmbereitschaft, denn nichts scheint unmöglich in dieser hybriden Bildwelt.

 

Der Dualismus von Vernunft und Phantasie, der das gesamte Werk von Wolfgang Neumann charakterisiert, stellt seine Arbeiten und hierbei insbesondere seine Tuschezeichnungen in die Nähe eines großen Vorgängers, des Malers Francisco de Goya.

Als Schlüsselwerk Goyas entstanden zwischen 1793 und 1799 ca. 80 Blätter, seine „Caprichos“. Der 1792 schwer erkrankte und fortan taube spanische Hofmaler hatte scheinbar nichts mehr zu verlieren. So kehrte er sich ab vom höfischen Leben und beschäftigte sich mit den Problemen seiner Zeit wie Armut, Standesdünkel, Aberglaube, Amtsmissbrauch und der Brutalität der Inquisition. Die „Caprichos“ stehen bis heute für schonungslose Gesellschaftskritik, gepaart mit handfester Erotik und beißender Satire.

Welch‘ Glück, dass die Inquisition in unseren Breiten Geschichte ist und dass Kunst allen Regeln der Freiheit gehorchen darf, denn Neumanns Bilder stünden mit großer Sicherheit auf dem Index der gesellschaftlichen Machthaber.

 

Seine Kunst ist eben nicht Wischiwaschi, wie uns das Plakatmotiv zeigt. Ein energisch wirkender Mann mit Gummistiefeln und blauer Bomberjacke fuchtelt mit einem roten Gartenschlauch herum und scheint dabei selbst schon einiges an Wasser abbekommen zu haben. Während wir vergebens nach einem PKW oder einem Baum suchen, der gewaschen oder bewässert werden soll, erklärt sich der Sinn des Schlauchs im Motiv am ehesten durch den Titel, denn zum Wischiwaschi  braucht man Wasser.

 

Auch in den Zeichnungen Sacktreter und Marschtreter bringt Neumann gestisch-expressiv aufs Papier, was viele von uns kaum zu denken wagen. Diese beiden Blätter waren in einer Benefiz-Ausstellung für Pussy Riot in Berlin ausgestellt, als Fanale des künstlerischen Widerstands gegen die politische Willkür eines Wladimir Putin. Die Künstlerinnen von Pussy Riot sind seither inhaftiert, während der weltweite Aufschrei aus Künstlerkreisen noch anhält.

 

Manchmal ist es eine politische Schlagzeile und oft auch nur ein Wort, das bei Wolfgang Neumann  eine Kettenreaktion auslöst und zunächst einen kreativen Denkraum generiert. Dieser mündet in der Folge in einen Bildraum, welcher einen schlagkräftigen Titel trägt, der wiederum eine Botschaft suggeriert, die im Dialog mit dem Bild nach außen tritt.

 

Bei der Alliteration Alter, Alpen, Aschewolke, schwant einem schon im Titel nichts Gutes. Ein Hirte im Bild verkörpert das Alter, welcher mit seinen zwei unterschiedlichen Schuhen die Flucht nach vorne antritt; doch auf der Flucht wovor? Die gefährliche Aschewolke scheint weniger gefürchtet als der Schiss des riesigen Täubchens, das über dem Haupt des Hirten fliegt. Die drei Schafe auf der grünen Weide wirken belämmert, als wüssten sie nichts von einer Gefahr, vor der sie fliehen müssten. In der Ferne erblicken wir eine schneebedeckte Berglandschaft, welche erst im Vordergrund extrem an Farbe gewinnt, um die Dramatik der Situation zu untermauern. Die gesamte Bildkomposition ist auf den linken Bildvordergrund und auf die Figur des Hirten ausgerichtet. Verzweiflung und Angst scheinen diesem Mann ins Gesicht geschrieben, der um sein Leben zu rennen scheint.

Dieses Bild ist paradigmatisch für die situationsbedingte Vernetzung von Farbe, Fläche und Raum in der Malerei Wolfgang Neumanns, der mit handwerklicher Souveränität in jedem seiner Bilder Inhalt und Form gegeneinander auslotet.

 

Wolfgang Neumanns Kunst lässt sich weder auf einen Nenner bringen noch ikonographisch eindeutig verifizieren. Dieser Künstler schöpft aus dem Vollen, er ist Verist und Dadaist, er ist Historienmaler und Genredarsteller und er ist ein unermüdlicher Tabubrecher.