"Meine Kontur...“
von Prof. Dr. Tilman Osterwold (2013)


Wolfgang Neumanns Songtexte sind beobachtend, selbstreflektiv, kombinatorisch
angelegt; sie bieten einen denkbaren Schlüssel im Versuch, dem reichhaltigen
bildnerischen Werk dieses vielschichtig inspirierten und komplex inspirierenden
Künstlers näher zu kommen.


Meine Kontur klingt doppelgleisig: selbstbezogen – wer wie wo was wann bin ich? –
und gleichzeitig auf die konzeptionelle Strategie zielend – somit die Identifikation mit
dem eigenen autonomen künstlerischen Selbstverständnis, das seine Bilder
unverwechselbar artikulieren; Konturierung als Prozess form-inhaltlicher Sprache(n)
– als Spiegelung persönlicher Erfahrungen. Doch lesen-hören-sehen wir weiter:
Meine Kontur ist verschwommen...Meine Kontur wird eine Wolke sein...meine Kontur
ist grenzenlos. Diese drei von sechsundvierzig Zeilen seines Liedtextes Ein Verlust
rhythmisieren die Konzeption dieses poetischen Versblocks, der – wie alle seine
authentischen Texte – um die Möglichkeit kreist, das Irgendwie – das Ich und die
Anderen – das Leben und die Dinge – in seiner gesamten widersprüchlichen
Komplexität wahrzunehmen und sich davon ein Bild zu machen. Es verbindet das
Anonyme mit dem Individuellen. Meine Kontur ist verschwommen – die Bilder sind
nicht klar, die Sicht durch diverse Mechanismen eingetrübt; Wolken wären eine
metaphorische Chance, der Irritation eine naturgemäße Form zu geben (so auch in
vielen seiner Bilder konkretisiert), die sich in unterschiedlichen Höhen und Tiefen und
mal langsameren oder schnelleren Tempi bewegen: schon von „Kindesbeinen“ an
Wunsch- und Phantasiebilder produzierend. Und – grenzenlos sein; natürlich: der
Künstler sprengt Grenzen, entgrenzt und „sucht das Weite" (im Sinne von
Annäherung und Distanzierung).


Die verschwommene wolkige grenzenlose Kontur hat Auswirkungen auf Form und
Farbe, auf den malerischen und zeichnerischen Duktus, auf das lineare Gefüge und
die Raumbildung – auf Konzeption und Komposition des Bildes. Alles schwankt und
sucht die Mitte. Wolfgang Neumanns Bildkonstruktionen verorten die Bildseiten wie
Himmelsrichtungen, die Bewegungen tendieren – fliesend oder stockend – nach
allen Seiten, die Bewegungsrhythmik innerhalb der Bildanlagen wirkt unberechenbar;
man assoziiert filmisches Flimmern, kurze Schnittfolgen und ungewöhnliche
künstliche Blickwinkel. Die Perspektiven drängen ins Weite, das Richtungsgefüge
stolpert dabei über Verengungen, Kreuzungen und Platzmangel. Die Bilder –
insbesondere die großformatigen – beinhalten oftmals eine Überfülle von Aktionen
und Momenten, lebendigen und dinglichen Vehikeln. Es passiert viel auf engem
Raum. Zeit, Tempo, Geschehnisse, Konfrontationen sind komprimiert. Amüsement
wird durch das Unheimliche gekontert, ein „Alles oder Nichts“ von Gefühlslagen,
gespiegelt und gespeist durch spielerische oder energische Konturierungen, die jene
vereinzelten und summierten Bildelemente zu strukturieren versuchen; deren
Formen substanzieller Stabilität zumeist entbehren und labil, vage und gleichsam
provisorisch im Bildganzen verankert sind; sie verschwimmen oder verschwinden
wieder: eine unfassbare, ungesicherte Wirklichkeit – oder Scheinwirklichkeit –
gespiegelt in merkwürdig ungereimten Farben, die ihre Quellen in Kinderbüchern,
Comics, Illustrationen, in diversen Print- und digitalen Medien, in Flachbildschirmen
und Computerspielen zu finden scheinen; insgesamt eher eine faktisch-realistische
Maniera als expressiv-impressive Peinture. Es passt alles nicht wirklich zusammen;
das betrifft synchron die verschwommene Ästhetik und die metaphorischen
Aussagen der Bilder, deren Geschichten sich explosiv oder introvertiert verhalten, die
extrem exzessiv oder gemäßigt veranlagt sind – irritierend, verrückt, verunsichert,
verunklärt, verfremdet, entfremdet...Die Muster unserer heterogenen
widersprüchlichen Bilderfahrungen werden wie im Zerrspiegel einer Flut sich konträr
begegnender form-inhaltlicher Prozesse und Strukturen visualisiert: die Form-
Gestaltung kreiert das Bildverständnis, die „Philosophie“ des Künstlers konzentriert
sich auf und vermittelt sich durch die elementaren Substanzen
wahrnehmungspsychologischer Faktoren in der Rezeption von Formen,
Farbkonstellationen und Räumen.


Ein wesentliches Kriterium in Wolfgang Neumanns Bildphysiognomien ist das
Moment der Inszenierung: die Regie, eine Dramaturgie, die in das Bild hineinführt.
Ebenen verschieben sich, Bildelemente kommen und gehen. Das Bildgeschehen,
gebannt in die vier Ecken des provisorischen, künstlichen Bildraums, ist gespickt mit
Überraschungen, ein andauernder Surprise-Effekt, gespeist aus Mixturen,
Collagierungen, Durchkreuzungen, Durchdringungen, Konfrontationen; weite
perspektivische Räume, die Bildebenen öffnen sich in die Fläche; die Distanz als
Nähe – die Nähe als Distanz. Es gibt Szenarien – insbesondere, wenn es um die
Kunstszene selbst geht: Sammlung, Atelier, Vernissage, Ausstellung, Performance,
Eröffnungsrede – da wirkt jeder inszenatorische Effekt besonders stimulierend. Das
Reale, das Event kippt ins Komische, Absurde, Satirische, Sketpische, ins Abnorme;
gleichzeitig ruft es magische, mystische, märchenhafte, metaphorische Momente
wach; das Mosaik, das Kaleidoskop eines Bildgefüges wirkt vielseitig assoziierbar
und interpretierbar: eine artifizielle Montage dinglich-lebendiger Objekthaftigkeit, die
sich stereotyper Muster deutlich entzieht. Sie treibt ins Bodenlose, Uferlose,
Grenzenlose, Szenen werden „aufgeheizt“. Es sei an ironische Motive der
Karikaturgeschichte erinnert, wo ein Maler einen Maler malt, der beobachtet wird und
jene Szene wiederum beobachtet, weitergedacht und weiterphantasiert wird..., bis
der Maler und sein Bild entschwinden. Jene „Karikatur“ künstlerischer
(Selbst)Wahrnehmung könnte man assoziieren im Kontext von Wolfgang Neumanns
„PollockbeiderArbeit-Varianten“. Gerade in dieser – sehr ernst zu nehmenden –
persiflierenden Interpretation wird Kunst – die Kunstszene – zur alltagskulturellen
Sphäre „degradiert“.


Der Gang in Wolfgang Neumanns Atelier brachte die Ambivalenz in den
Temperaturen seiner Bilder besonders intensiv zur Wirkung. Das Klima seiner Bilder
wirkt auf den ersten spontanen Blick herb, gleichzeitig aber ist es von einer
empfindsamen Wärme durchzogen. Die sensiblen Nuancen verstecken sich in den
schroffen Temperamenten einer haltlosen bis aggressiven, engmaschigen bis
weiträumigen Bildwelt, deren „leere Fülle“ sich kompositorisch und medial sucht und
verliert: eine Art chaotischer Neuordnung, deren Zusammenspiel gleichzeitig heiß
und kalt, licht und schattig, hart und weich, schwer und leicht „klingt“. Innerhalb
seiner kleinräumigen Atelierwelt zeigte Wolfgang Neumann kurzfristig über
Internetversand hereingekommene Großformate: überlebensgroße PVC-Planen mit
Digitaldruck, basierend auf grafischen Ritzungen (Kaltnadelradierung) auf
kleinformatigen transparenten Plexiglasflächen, die durch ein hochauflösendes
Scanverfahren digitalisiert werden; ein reduktiver, sukzessiver Duktus, ein handmade
Verfahren führt über die Mechanik einer „billigen" Versandhaus-Technik zu einer Art
Großbildleinwand: hart in der meist schwarz-weiß kontrastierenden dichtgefügten
Grafik voller energischer Linien, die eine angestrengte Thematik, ein gespenstisch
wirkendes Ausdrucksbild des Politischen, des öffentlichen Geschehens artikulieren;
basierend auf meist kleinformatigen über Massenmedien transportierten, knapp
reduzierten und neu kombinierten Bildreminiszenzen. Hier entfaltet Wolfgang
Neumann eine dissonante Gestaltungsenergie, die den widersprüchlichen und
unheimlichen Essenzen des politischen Alltags inklusive seiner Gefährdungen
standhält. Der Künstler denkt politisch und ist politisch motiviert. Den versteckten
Seitenkammern und beängstigenden gesellschaftlichen Psychologien begegnet er
mit einer einzigartigen prägnanten Ausdruckskraft. Größenordnung – Größenwahn,
Gewöhnung – Gewöhnliches, Gegenwart – Gegenwärtiges sind auf makabre Weise
mit- und gegeneinander konfrontiert und innerhalb der Bildpanoramen in eine
strapazierte Dichte übertragen; aus der Nähe, der räumlichen Verengung gesehen –
ein irritierendes Erlebnis, das gewohnte Balancen im Umgang mit Bildern und
Wertigkeiten aus der Fassung bringt. Denn: auch der Künstler maskiert sich als
Artist, als Seiltänzer (ohne Netz?) im Zirkus, in der Manege der Welt; eine
existenzielle Metapher – wie auch der unheimliche idyllische, verklärte Märchenwald
im Werk von Wolfgang Neumann eine allegorische Spiegelung
gesellschaftspolitischer Ungereimtheiten meint.


Die Werktitel seiner Bilder charakterisieren die Vielschichtigkeit ihrer Bedeutungen,
sie pointieren eine Symbiose aus Sprachwitz und Bildwitz: ein Kontrastprogramm
aus Irritationen im lustvollen Spiel mit abstrusen, anarchischen, absurden, abnormen,
mehrdeutigen Bildideen; eine konzeptionelle Strategie, gespeist aus der
künstlerischen „Brille“ massenmedialer Bewusstseinsindustrie im inflationären
Umgang mit veroberflächlichten Images – zurückgegeben in das tradierte Medium
von Malerei und Zeichnung – im Bewusstsein von Zeitgeschichte, Kunst- und
Kulturgeschichte. Das Innovative spricht aus der unverwechselbaren Heterogenität
der ikonografischen und gestalterischen Kraftfelder, die seine Bilder ausstrahlen:
rätselhaft, gespenstisch, paradox, ein heilloses, therapiebedürftiges Durcheinander
von Erfahrungen, eine konzeptionelle Strategie, in der das Künstlerische mit dem
Alltagsbereich korrespondiert. Der Künstler: Ist er ein „Dompteur“, „Jongleur“,
„Akrobat“ in der hintergründigen und unergründlichen Kombinatorik von Zeiten und
Räumen? Im Sinne einer Textsequenz von Peter O. Chotjewitz´ literarischem Exkurs
zu Wolfgang Neumanns Zeichnungen (Verbrecher-Verlag, Berlin, 2009): „Es braucht
eine Zeit, um einen ganz kurzen Satz über eine ganz schnelle Sache zu schreiben.“
In Richtung auf die Künstlerpersönlichkeit Wolfgang Neumanns könnte man den Satz
auch modifizieren...: „Zeit“, um eine extrem komplexe Sache, die Momentaufnahme
eines pointierten Bildes, auf Dauer wirkungsvoll zu verzaubern.