Remix, Rätsel und Rollbraten

Nur selten macht es Wolfgang Neumann dem Betrachter so einfach wie im Gemälde „Vogelhaus“. Formatfüllend hat
er darin ein knuspriges Brathähnchen in ein selbstgezimmertes, schneebedecktes Vogelhäuschen platziert. Derart
übersichtlich gehalten, wird das Groteske und Humorvolle des Motivs auf einen Blick und im Moment des Betrachtens
evident. Andere Arbeiten hingegen sind zunächst verstörend und verlangen dem überforderten Betrachter einen regelrechten
Rezeptionsprozess aus wechselseitig sich beeinflussender Wahrnehmung und Deutung ab.
Hier verdichtet Neumann Motive und Bildebenen collageartig zu teils absurden Kompositionen, in denen Parallelwelten
aufeinander treffen, ineinander übergehen, miteinander kommunizieren oder sich jäh voneinander abgrenzen. Oft
eingebettet in eine Fülle von Details, mischen sich bekannte und leicht zu identifizierende Motive mit verstörenden Elementen.
Derart komplex und vielschichtig aufgebaut, lösen manche Bilder beim Betrachter – um es mit den Worten des
Künstlers zu beschreiben – einen „optischen Verdauungsvorgang“ aus.
Wolfgang Neumanns Arbeiten sind geprägt von unserer Zeit und den uns umgebenden Medien, die wiederum stark beeinflusst
sind von digitalen Produktions- und Bearbeitungsverfahren und den damit einhergehenden Möglichkeiten schöpferischer
Gestaltung. Mit dieser Digitalisierung sind völlig neue visuelle Kompositionen und Bildräume entstanden. Man
denke dabei nur an das beliebte Computerprogramm Photoshop, mit dem die unwahrscheinlichsten Motive täuschend echt
zusammengerechnet werden. Oder man denke an den Hollywood-Film „Matrix“, der inhaltlich mit dem uralten platonischen
Höhlengleichnis spielt, aber dies – dank digitaler Bildkreation – in nie gekannter und dagewesener Visualisierung.
Diese neuen Möglichkeiten, Bilder zu komponieren – und mehr noch: ihre in den Medien allgegenwärtige Wahrnehmbarkeit
–, bleiben nicht ohne Einfluss auf die Künstler der heutigen Zeit. Auch Wolfgang Neumann, selbst Angehöriger
dieser „Generation.jpg“, ist in diesem Sinne „Bildmischer“ – allerdings keiner, der mit Bytes und Pixeln arbeitet, sondern
– und das ist der Punkt, an dem es spannend wird – mit traditionellen Mitteln althergebrachter Malerei.
Einzig verbleibende Analogie zur digitalen Bildschöpfung ist die Begrenzung auf vier Ecken. Bei Neumann sind das
nicht die vier Ecken des Bildschirms, sondern die der Leinwand bzw. des Zeichenpapiers. Den Raum innerhalb dieser
Ecken nutzt Neumann als „Arena totaler Freiheit“, in der er mit schier grenzenloser Phantasie wilde Collagen und
(Re)Mixes aus Szenerien, Motiven und Farben kreiert. Dabei setzt er bewusst zwei gegenläufige Strategien ein: Den

Wiedererkennungseffekt und dessen Gegenteil, den Bruch mit dem Bekannten und das Abweichen vom Erwarteten.
Wiedererkennung erzielt er durch fotografische Vorlagen, nach denen er gezielt im Internet oder in Zeitschriften sucht.
Deren Auswahl wird durch subjektiv empfundene Relevanz bestimmt. Das Konterfei Fidel Castros etwa greift er ebenso
auf, wie die tanzende Britney Spears, Tierkadaver einsammelnde Seuchenbekämpfer oder die Kapuzen-Folter-Szene in
Abu Ghraib. Gelegentlich sind es auch Referenzen, die für Déja-vu-Erlebnisse sorgen. So greift Neumann die Waldlichtung
in Edouard Manets „Frühstück im Freien“ in eigenen Gemälden als Schauplatz auf.
Diese Wiedererkennungseffekte werden durch bewusst gesetzte Brüche konterkariert. Das wichtigste Stilmittel dabei
ist kompositorischer Art: Neumann schafft Diskontinuitäten, indem er zusammenbringt, was nicht zusammengehört.
Mal sind dies einfache, humorvolle Kompositionen (Brathuhn im Vogelhäuschen), mal komplexe und absurde Konstellationen
(der Papst mit Dönerspießen auf ein Schnitzel genagelt), die bisweilen ins Surreale abgleiten und jedwede
Bodenhaftung verlieren. Zusätzlich kommen Details mit ins Spiel, die vollkommen deplatziert und befremdlich wirken.
Das sind Banalitäten oder, wie Neumann – ganz am Puls der Zeit – formuliert, „Trashiges“. Als Inbegriff für „Trash“ gelten
ihm einfachste Alltagsnahrungsmittel: So wimmelt es in seinen Bildern von Würstchen, Speckscheiben, Dönerspießen,
Burgern und Pommes (Freedom Fries!). Mit rein malerischen Mitteln schafft er Brüche auch jenseits von Inhalt und Komposition,
etwa wenn er mit de Kooning´schem Pinselstrich Farbschlieren und -schlingen aufträgt oder Gegenständliches
sich in abstrakten Formationen auflösen lässt.
Auf diese Arten flutet (manchmal: überflutet) Wolfgang Neumann den Bildraum zu energiegeladenen, hoch angereicherten
Collagen. Dabei behält die Strategie der bewussten Diskontinuität stets die Oberhand. Neumann pflegt ein sichtbares
Misstrauen zur vermeintlichen Klarheit von Wahrnehmung und Information. So entstehen Gemälde und Zeichnungen
voller Verschrobenheiten, Anspielungen, Widersprüche und falscher Fährten – oftmals unterstrichen noch durch die
wortspielartigen, ironischen Bildtitel („Schleuderpreistrauma Schnäppchensniper Sourround“).
Mehrdeutigkeiten nimmt er gerne in Kauf – beim Gemälde „Frühstück im Freien“ etwa, in dem er einen Trupp Maskierter
in die Waldlichtung platziert und dabei jede Deutung – Terroristen? Das Befreiungskommando? Sado-Masochisten beim
Ausflug ins Grüne? – plausibel erscheinen lässt. Andere Motive wiederum wollen Rätsel bleiben.

Manches lässt sich auch metaphysisch oder aus unterbewusster Warte deuten, vor allem bei großformatigen Gemälden,
in denen Neumanns absurde Kompositionen wie durch mediale Reizüberflutung ausgelöste Entladungen erscheinen. So
betrachtet ähneln seine Bilder verstörenden Träumen, wie sie jeder kennt, in denen reale Begebenheiten unkontrolliert
und zügellos mit grotesken Szenen verschmelzen.
Malerisch inszeniert Neumann diese Entladungen mit atemberaubender Intensität. Die Strategie der Diskontinuitäten
fortsetzend verwendet er dissonante, sich bisweilen beißende Farben, die er mit kräftigem Pinselduktus auf die Leinwand
bringt. Mit oft nur wenigen Pinselstrichen gelingen ihm ausdrucksstarke Motive, die von feiner Beobachtungsgabe
und hoher Kunstfertigkeit zeugen. Dabei macht er den Rückgriff auf fotografische Vorlagen vollkommen vergessen
– die tagesaktuellen Anlässe ihrer Entstehung werden bedeutungslos.
Der Einfluss heutiger (Massen)Medien auf die Repräsentation und Wahrnehmung der vermeintlichen Realität ist in
Neumanns Bildern nahezu durchgängig präsent, wenn auch nicht immer auf den ersten Blick erkennbar. Der Künstler
gibt damit auch einen Teil seiner persönlichen „Welt-Anschauung“ preis. In Anlehnung an Paul Watzlawicks Kommunikationstheorem
(„Es ist nicht möglich, nicht zu kommunizieren“) ist es für Neumann in Zeiten von Satelliten-TV, Internet
und Digitalisierung gleichsam unmöglich, sich nicht mit Medien zu befassen. Selbst ein Verzicht auf die künstlerische
(Weiter-)Verarbeitung wäre somit Resultat bewusster Auseinandersetzung. Auf dieser Ebene reichen seine Arbeiten weit
ins Existentialistische hinein. Ansatzpunkte für gedankliche Verknüpfungen zur Erkenntnisphilosophie gibt es zuhauf.
Sie reichen von Platons Höhlengleichnis bis zu Berger/Luckmans Konstruktion sozialer Wirklichkeit.
Im Kern geht es auch Wolfgang Neumann um die Frage, was real und was Abbild, was ursprünglich und was geschaffen
ist. Mit seiner auf die Leinwand und auf Papier gebrachten Gleichzeitigkeit von Konstruktion und Dekonstruktion zieht
Neumann den Betrachter in ein gedankliches Such- und Ratespiel und konfrontiert ihn dabei mit seinen eigenen Mechanismen
der Informationsaufnahme und -verarbeitung und den verinnerlichten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern.
Auf hintersinnige Weise erzielen seine Gemälde und Zeichnungen so eine Wirkung, die über ihre Bildinhalte und somit
über sie selbst hinausgeht.

 

STEFAN SCHULER, 2006 (aus dem Katalog WANWIZ, Kerber-Verlag, Leipzig-Bielefeld)